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Casual dating

Immer mal wieder begegnen mir Menschen die in zufriedenen Beziehungen sind – und doch fortlaufend Dates wahrnehmen. Ich gehöre selber auch dazu. Das scheint zunächst ein Widerspruch zu sein. Ein (Selbst-) Erklärungsversuch:

In der Laufbahnberatung gibt es den Begriff der ‚Marktwertüberprüfung‘ (yeah – i know, but let‘ me explain). Dieses Vorgehen wird insbesondere dann empfohlen, wenn jemand sich in seiner aktuellen Anstellung unsicher ist, mit dem Gedanken spielt zu kündigen, oder in Verhandlungen mit den Vorgesetzten treten will. Durch das Bewerben auf ein paar ausgeschriebene Stellen, lässt sich anhand deren Rückmeldungen der eigene Wert auf dem Stellenmarkt überprüfen. Dies kann eine i-m-m-e-n-s-e Hilfe sein, um sich seiner Möglichkeiten und Grenzen besser bewusst zu werden. Es kann zudem verhindern, in diffusen was-wäre-wenn Szenarien stecken zu bleiben.

Die Rückmeldungen kommen umgehend: Werde ich zu Vorstellungsgesprächen eingeladen? Erhalte ich postwendend Absagen? Existieren überhaupt Stellen die mich interessieren und motivieren? Was löst der konkrete Gedanke eines Jobwechsels bei mir aus? Die Marktwertüberprüfung ist ein um-sich-tasten ohne den eigenen Mittelpunkt zu verschieben. Sie skizziert auf ungefilterte Weise, mögliche Szenarien nach einer Kündigung. Sie kann dadurch helfen, sich seines Wertes bewusster zu werden. Oder sie kann aufzeigen, dass es schwierig wird, eine vergleichbare Anstellung zu finden. So oder so trägt diese Überprüfung dazu bei, seine Entscheidung vor einem etwas realistischeren Hintergrund zu treffen.

Stellt sich die Frage, ist das auch in Beziehungen erlaubt? Darf ich abtasten, welche anderen Optionen ich noch hätte? Ist das verwerflich oder eher essentiell? Ist es befreiend oder eher bedrohlich?

Vielleicht ist hier auch der Begriff ‚Marktwertüberprüfung‘ etwas hinderlich (obschon nicht unpassend). Nennen wir’s doch mal ‚Aktualisierung des Selbstbildes‘.

Denn – Hand aufs Herz – es kommt ja durchaus mal vor, dass Beziehungen durch schwierige Phasen gehen. Dass ich Nachts wach im Bett liege und mich frage, ob das nun wirklich das ist, was ich wollte. Ob es eine Beziehung ist, die zu meinen Voraussetzungen und Möglichkeiten passt. Die mich eine gute Version meiner selbst sein lässt. Oder habe ich überhaupt eine Vorstellung davon, wer ich sein (oder werden) könnte? Klar, die aktuelle Beziehung vermittelt mir ein Bild meiner Person. Meiner Stärken und Schwächen. Meiner Eigenheiten. Meines Charakters. Aber inwiefern stimmt denn dieses Bild? Oder hat es allenfalls mehr mit meinem Gegenüber als mit mir zu tun? Könnte ich möglicherweise auch jemand anders sein?

Denn vielleicht gäbe es jede Menge Menschen, die meine Unordentlichkeit locker wegstecken. Die an meinen liegengelassenen Schuhen und Mantel im Eingang, einfach vorbeigehen, weil sie sich zunächst freuen mich zu sehen. Oder es gibt vielleicht Menschen, die meine mehrdeutigen Wortwitze nicht nur aushalten, sondern mich sogar ziemlich lustig finden. Menschen die mich in meiner übersprudelnde Energie nicht beruhigen wollen, sondern gar mithalten können. Oder Menschen, die meinen etwas eigenen Tanzstil überhaupt nicht komisch, sondern vielleicht sogar ziemlich sexy finden. Oder was, wenn ich mich vielleicht längst verändert habe, aber die bestehende Beziehung veraltete Eigenheiten weiterhin repetiert?

Vielleicht, gäbe es aber auch ganz wenig Menschen, die mit mir zurecht kommen würden. Vielleicht halten nur wenig Menschen, mein infantiles Trotzverhalten aus, oder können mir darin gar mit Mitgefühl begegnen. Oder es gibt nur wenig Menschen, die meine introvertierte Art, nicht als Ablehnung interpretieren. Menschen, die sich nicht daran stören, dass ich jede Reise, bereits Monate zuvor ins kleinste Detail vorausplanen will. Die kein Problem damit haben, dass ich mir weder Geburts- noch Jahrestage – geschweige denn die Namen deren wichtigsten Freunde merken kann. Vielleicht gibt es nur wenig Menschen, die schon längst hinter meine Maske sehen, aber nichts sagen und mich trotzdem einfach weiter lieben.

Casual Dating, so scheint es mir, kann hier eine wichtige Funktion erfüllen. Durch fortlaufenden Abgleich mit verschiedenen Menschen kann ich mein Selbstbild aktualisieren. Ich kann mit vergleichsweise wenig Aufwand überprüfen, ob ich Anderen Menschen ebenfalls als humorvoll, distanziert, uninteressant, ungepflegt, intelligent, unternehmensfreudig, anziehend, oder impulsiv erscheine. Ich erhalte eine Rückmeldung zu meiner Person, die ich dann mit meinem Selbstbild abgleichen kann.

Bin ich mir bewusst, was andere Menschen (auch noch) in mir sehen?

Bewege ich mich in einer Beziehung, die im Rahmen realisitischer Optionen wirklich zu mir passt? Die mir ermöglicht mein Bestes zu leben? Sind das nicht ziemlich wichtige Fragen?

Denn diese Realisation beeinflusst eine Beziehung. Ich bin dankbarer für die mir entgegengebrachte Geduld, wenn ich ein Verständnis davon habe, dass Andere bei weitem nicht so geduldig mit mir wären. Ich merke erneut, wie selten es ist, mit einem Menschen schweigend und zufrieden nebeneinander her spazieren zu können. Ich bewerte eine langfristige vertraute Beziehung anders, wenn ich mit den Eigenheiten einer frischen, noch unbekannten Beziehung konfrontiert werde. Oder aber ich traue mich auch mal zu sagen, dass es anderen Menschen durchaus gelingt meiner Zerstreutheit nachsichtig zu begegnen, und sie diese nicht gleich als lieblos anprangern. Oder, dass es scheinbar doch möglich ist, mit mir zu streiten, ohne einander danach stundenlang anschweigen zu müssen. Und das meine sexuellen Vorlieben gar nicht abartig, sondern einfach anders sind. Plötzlich merke ich, wer ich eigentlich sein könnte, oder vielleicht sogar schon bin.

Klar, solche Prozesse können Angst machen, weil sie mich möglicherweise mit einer unangenehmen Realität konfrontieren. Weil sie möglicherweise Veränderungen mit sich bringen. Aber sie lassen mich auch erkennen, wer ich (auch) bin. Und was möglicherweise in greifbarer Nähe wäre. Und sie spiegeln mir, welche Menschen ich in meinem Leben wirklich brauche – oder welche vielleicht auch nicht.

Kommunikation


Marc

Hat das Buch ‚ethical slut‘ gelesen und ist seither Feuer und Flamme für Polyamorie. Er greift nach den Sternen und will mutig seinen Weg finden. Freude im Leben reicht ihm nicht, er will Euphorie. Hat vermutlich ein ADHS, aber mag sich eigentlich so.