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Radikal ehrlich

„Radical honesty“ meint die Vorstellung, dass wir gnadenlos ehrlich sein könnten. Dass wir quasi ohne Rücksicht auf Verluste einfach sagen, was wir gerade als wahr empfinden und wirklich denken. Die Idee basiert auf der Annahme, dass das Lügen letztlich viele Chancen verunmöglicht.

Mir gelingt das bei Weitem nicht immer, obwohl ich spontan nur ganz schlecht lügen kann. Ich schummle manchmal, etwa um zu harmonisieren, aus Egoismus, um mich besser zu machen oder einfach, weil es mir peinlich wäre, ganz ehrlich zu sein. Aber die Idee dieser Radikalität finde ich doch spannend. Denn wenn wir uns mal überlegen, wie oft wir nicht genau das sagen, was wir denken und wie oft wir uns ein wenig verstellen, ist das gar nicht so selten. Gewisse Beziehungen überleben bestimmt nur, weil wir dies tun. Aber was gewinnen wir damit wirklich?

Wenn Ingeborg Bachmann sagte: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, weiss ich nicht so ganz, wie sie sich das im Detail vorstellte. Gäbe es da nicht sofort noch viel mehr Klagen wegen verbaler Übergriffigkeit? Gäbe es öfters Schlägereien? Politisch sind wir in Zeiten eines Trump meilenweit entfernt von diesem Credo: während Bill Clinton noch knapp sein Amt behalten konnte, wegen einer einzelnen Lüge, lügt Trump wie es ihm gerade ein- und gefällt.

Interessant ist ja vielleicht weniger, ständig die Wahrheit zu sagen, sondern genauer zu überlegen, warum wir in welcher Situation die Wahrheit vermeiden und zu hinterfragen, ob das jeweils wirklich ganz nötig ist. Madonna sagt: „Die Lüge, die man sich aussucht, erzählt viel über einen selbst.“ So ist es nicht nur interessant zu beobachten, wann wir lügen sondern auch wie. Unser Leben bekäme aber doch einen ganz anderen Schwung, wenn wir öfters direkt und insofern wahr wären. Man stelle sich vor, was passieren würde, wenn man sich ganz anders verhält, als es gesellschaftlich erwartet wird. Bei dailymotion findet man „Le photo du bébé“: hier sehen wir, wie sich zwei Paare zum Essen verabredet haben und die Mutter ein Foto von ihrem Baby dem anderen Paar zeigen möchte. „Regarde la photo du bébé…“. Der Mann weigert sich zur Verblüffung aller Beteiligten, das Foto anzuschauen und begründet sein Verhalten so, dass er ja dann gezwungen wäre, zu sagen, wie hübsch es sei, obwohl er es womöglich überhaupt nicht hübsch findet. Fast kommt es zur Beziehungskrise, bis er dann doch nachgibt und hinschaut sowie bestätigt, dass das Baby wirklich süss sei. Wie oft finden wir uns in so ähnlichen Zwängen wieder und machen das Spiel mit?

Am meisten wird wohl im Zusammenhang mit Sexualität gelogen und geschummelt oder auch in Abhängigkeitsverhältnissen. Der Chefin wird man kaum sagen, dass man ihr Parfum ganz schrecklich findet oder dem Chef, dass er Mundgeruch hat. Oder wenn sich zwei Menschen kennen lernen und noch in Beziehungen sind, die das Ablaufdatum bereits überschritten haben (oder auch nicht), werden sie, falls ein tieferes Interesse besteht, etwas untertreiben, was die vorhandenen Verbindungen betrifft, oder überhaupt so tun, als ob sie Singles wären. Ich denke, dass man sich manchen Stress ersparen kann, wenn man in solchen Situationen ehrlich ist, sonst kommt der Spruch zum Tragen: Lügen haben lange Beine! Inwiefern totale Transparenz in Beziehungen die Lösung ist und was wir uns darunter vorstellen sollen, muss individuell geklärt werden.

Der Philosoph Robert Pfaller führt in seinem Buch „Erwachsenensprache“ differenziert aus, dass immer weniger Direktheit zugemutet wird und Erwachsene nicht mehr wie Erwachsene miteinander sprechen. Wer sich für weisse Lügen und schwarze Wahrheiten interessiert und offen ist für eine gute Portion Provokation, sollte sich das Buch übrigens unbedingt anschaffen.

Der Beginn von radical honesty ist wahrscheinlich das Schwierigste, aber notwendig, um andern gegenüber nicht verletzend zu werden sondern klärend und aufrüttelnd: nämlich mit sich selber ganz ehrlich zu sein. Das braucht tägliches Üben – und ausgelernt hat man vermutlich nie.

Erfahrungsberichte, Kommunikation


Dominique

ist philosophische Praktikerin und bietet unter anderem Paar- und Beziehungsberatung an. Sie schreibt zu den Themen Polyamorie, Beziehungen und Sexualität – auch in einem eigenen Blog unter textbistro.wordpress.com