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Willst du deine Zahnbürste auch hier lassen?

Es war ein lauschiger Abend zu zweit: gemeinsames Essen, eine Flasche Wein, tiefe Gespräche und aufregender Sex. Und dann, vor dem zu Bett gehen, beim allabendlichen Körperpflege-Ritual fällt mein Blick auf das Glas mit drei Zahnbürsten. Das Symbol das mir sagt, dass ich nicht die Einzige bin, die sich hier die Zähne putzt, die hier zu Abend isst, Wein trinkt und aufregenden Sex hat. Ein Corpus Delicti, das mir zu verstehen gibt, dass sich hier vor mir Andere die Zähne geputzt haben und es nach mir weiterhin tun werden. Und dann die Frage, die mich völlig unerwartet in eine ausgedehnte Reflektion katapultiert: „Willst du deine Zahnbürste auch hierlassen?“

„Nein, so Eine bin ich nicht!“ ist meine instinktive Reaktion. Aber was ist denn so Eine? In der reflexartigen Äusserung steckt ein Urteil, das mir überhaupt nicht zu haben zusteht. Doch mein Kopf ist bereits gefangen im Vortex der Grübelei: Was bedeutet eine Zahnbürste im Haushalt meines Partners? Dass ich oft da bin? Dass ich auf gute Mundhygiene achte? Dass ich mein Territorium markiere? Oder dass meine Zahnbürste, die 0,5% des Gewichts des üblichen Übernachtungs-Gepäck ausmacht nicht mehr mit mir rumschleppen mag? Stellt die Zahnbürste Anderer eine Bedrohung meines Stellenwerts bei meinem Partner dar? Bin ich automatisch weniger präsent in seinem Leben, wenn ich meine Zahnbürste nicht neben die der Anderen stelle?

Polyamor — oder das von mir bevorzugte Label: Beziehungsanarchistin zu sein bedeutet für mich, dass ich jede Beziehung anhand der Bedürfnisse der (beiden) Involvierten gestalte. Darum konfrontiert mich die Zahnbürsten-Frage sofort mit mir selber und mit der Frage, was ich mir von dieser — sowie meinen anderen Beziehungen — eigentlich wünsche. Welchen Grad an Autonomie möchte ich in meiner Beziehung erfahren und gewähren? Wie viel Nähe und Intimität kann ich anbieten? Bevorzuge ich Qualität oder Quantität in den Begegnungen mit meinen Partnern? Wie präsent möchte ich in deren Alltag sein und wie stark möchte ich sie in meinen Alltag involvieren?

Plötzlich wird der Standort meiner Zahnbürste zum Statement meiner Werte: Er versinnbildlicht meine Selbstwahrnehmung als eine selbständige, unabhängige und freiheitsliebende Frau, die diese Privilegien auch meinen Partnern gewähren möchte. Eine Zahnbürste im Badezimmer meines Partners assoziiere ich als Symbol eines Besitzanspruches und einer stillen Präsenz im Alltag meines Partners. Und genau das beschliesst mein Schlussargument. Mein Entscheid damals gegen die Monogamie wurde stark von den damit einhergehenden Besitzansprüchen geprägt. Ich jedoch wünsche mir eine Beziehung, die mich in meiner Autonomie bestärkt, mir Freiheit gewährt und bedingungslose intime Begegnungen ermöglicht. Dass sich solche Begegnungen aneinanderreihen wäre erwünscht, soll aber keine Selbstverständlichkeit sein. Die Beziehung und deren Komponenten sollen sich immer wieder verändern dürfen, basieren allerdings auf gegenseitigem Respekt und Wertschätzung. 

Aus meinem ursrpünglichen Bauchgefühl hat sich somit eine reflektiertes Statement geformt: ich möchte meine Zahnbürste nicht im Bad meines Partners zurück lassen, denn ich möchte, dass unsere Beziehung immer frei ist von Ansprüchen. Das bedeutet auch, dass es nach einem erfüllenden Abend zu zweit keinen Anspruch auf Wiederholung gibt. Um diese Bedingungslosigkeit zu erhalten reist darum meine Zahnbürste im Gepäck mit mir mit.

Oder vielleicht wäre es doch einfach nur praktisch und eine Zahnbürste ist einfach nur eine Zahnbürste, die mein Partner auch jederzeit wegwerfen kann…

Erfahrungsberichte, Freundschaft


Selene

Beschreibt sich als introvertierte Beziehungsanarchistin, die gerne viel Zeit mit sich alleine verbringt. Versteht Gestaltung und Ästhetik als ihre Lebensaufgabe. Will sowohl beruflich wie auch in der Liebe im Potpourri der Möglichkeiten immer neue verführerische Kombinationen erleben. Bevorzugt Bier dem Wein, Qualität der Quantität und Stille dem Small-Talk. Liebt gerade Linien, Minimalismus und formvollendete Kreationen.